Wir treffen uns in der Mitte. Sie aus Mainz, ich aus Frankfurt. Golf-Club Main-Taunus, Wiesbaden-Delkenheim. Sie, eine Ikone des Sports, ich, bei ihrem Leistungszenit ein kleiner Junge, der Olympische Spiele mit großen Augen am Fernsehbildschirm verfolgte. Vor allem die Leichtathletik. Sie war 1968 Olympiasiegerin im Fünfkampf in Mexiko und 1972 mit der 4x100-Meter-Staffel in München. In Weltrekord-Zeit. Dazu zweifache Europameisterin 1971, unter anderem. Im Weitsprung mit 6,76 Metern. Da wäre sie auch heute noch gut dabei. Ingrid Mickler-Becker, 1968 und 1971 Deutschlands Sportlerin des Jahres. Eine Ikone, Mitglied der Hall of Fame des deutschen Sports.
Noch immer eine beeindruckende Erscheinung
Ganz sicher hat auch sie zu meiner Begeisterung beigetragen, die mich nun in Paris meine neunten Olympischen Sommerspiele als Leichtathletik-Reporter erleben lassen. Ingrid Mickler-Becker sind ihre 82 Jahre nicht anzusehen. 1,78 Meter groß und schlank, noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Ich traf sie kürzlich bei einem Turnier im Frankfurter Golf Club. Ein gemeinsames Spiel ist schnell ausgemacht.
Meine Ehrfurcht gegenüber den Heroen der Vergangenheit ist irgendwie größer als bei den jüngeren Sportlerinnen und Sportlern, die ich als Journalist begleitet habe. Hat wohl was mit Prägung zu tun. Aber Ehrfurcht vor einer 82-jährigen Golfspielerin? Stellt sich schnell ein! Mein Abschlag ist für meine Verhältnisse nicht schlecht. 170 Meter. „Das ist doch nicht weit“, ätzt Frau Mickler-Becker. Nach ihrem Abschlag weiß ich Bescheid. Der hat den Vorteil Damen-Abschlag weit mehr als wettgemacht. Meinen Chip direkt an die Fahne kommentiert sie mit: „Reines Glück! Nur wer das zweimal hintereinander macht, kann das.“ Es sollte mir nicht mehr gelingen.
Die Dame weiß, den Zahn zu ziehen. Ihr bestes Handicap lag mal bei acht, heute sind es 13. Mit 82! Mein Birdie durch einen Putt aus acht Metern an der Bahn 5 lässt sie völlig unkommentiert. Frustrierend. Aber sie weiß auch aufzubauen. Fast jeden halbwegs gelungenen Schlag kommentiert sie mit „gut gemacht“. Auch beim nächsten Schlag: „Gut gemacht“. Da er aber wie fast immer mit einem deutlichen Slice nach rechts abdreht, grummelt sie, dennoch deutlich hörbar: „Nur an der Richtung sollten wir noch arbeiten“. Eine echte Wettkämpferin kommt wohl nie raus aus diesem Modus.
So battlen wir uns über neun Loch, aber reden viel dabei. Über Gott, die Welt, den Sport, die Politik. Und über ihren Mann. Der ist vor einem Jahr gestorben. Das hat sie fast aus der Bahn geworfen. „Ohne meine Freunde hätte ich das nicht geschafft. Mit ihm ist die Hälfte von mir gegangen.“ Er muss ein toller Typ gewesen sein. Ehemann, Freund, Berater, Zuhörer. Sie war 15, er 18, als sie sich kennen und lieben gelernt haben und seitdem gemeinsam durch die Welt gingen.
„Zum Glück habe ich noch meinen Sohn Philipp. Und meine Schwiegertochter. Und mein Enkelkind.“ Friedrich Mickler hat die Geburt der Enkelin noch erlebt. „Eine große Freude. Damit hatten wir eigentlich gar nicht mehr gerechnet“, sagt die 82-Jährige und trotzt der großen Trauer, die sie noch immer umgibt, ein wenig Freude ab.
Ingrid Mickler-Becker: "Friedel hat mich zum Golf gebracht"
Der Friedel, wie sie ihn nennt, hat sie auch zum Golfspielen gebracht. Eine Sportart, die sie immer spöttisch abgelehnt hat. „Vielleicht fang ich mit 80 damit an“, hat sie stets Manfred Germar geantwortet, der sie immer wieder an den Golfschläger bringen wollte. Der ehemalige Europarekordler über 200 Meter ist noch heute mit 89 Jahren als Golfer unterwegs und ein enger Freund der Familie. Zusammen mit ihm war sie jahrelang im Gutachter-Ausschuss der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Die entscheidet, welcher Spitzensportler wieviel Geld bekommt. Dem Sport blieb und bleibt sie immer noch in mehreren Ehrenämtern verbunden.
Das Abitur machte Ingrid Mickler-Becker auf dem zweiten Bildungsweg und wurde Lehrerin. Für Friedel gab sie den Beruf auf. Den Ingenieur aus der Automobilbranche verschlug es in die USA. Dort verbrachten sie „drei wundervolle Jahre“. Und Amerika, ohne Golf? Schwer. Nicht mit 80, sondern mit Mitte 40 trauten sie sich ein bisschen wider Willen auf die Plätze im Umkreis, ohne auch nur eine Ahnung vom Spiel zu haben. Zwar gab es kritische Fragen im Golfsekretariat, aber die wurden einfach weggewischt. „Wir können das!“ Und ab ging´s auf die Runde. That´s America.
Käme es nicht aus diesem seriösen Munde, könnte man es nicht glauben, was sich Friedel und Ingrid auf ihren ersten Runden leisteten. Beim Abschlag hatten sie gesehen, dass die Spieler ein Tee benutzten. „Stöckchen“ nannten es die beiden. Und da sie nie mit jemandem auf der Runde waren, haben sie auch nie gesehen, dass das „Stöckchen“ nur einmal Verwendung findet. Sie aber benutzten es fröhlich auch auf dem Fairway. Im Rough aber war das Stöckchen nicht mehr hoch genug. Also fragten sie nach der Runde im Sekretariat nach höheren Stöckchen.
Die leicht peinlich berührte Dame im Büro versprach sich darum zu bemühen, freundlich wie Amerikaner(innen) nun mal sind. Höhere Stöckchen haben sie nie bekommen und wussten spätestens nach einer ersten gemeinsamen Runde mit Freunden, warum. Diese Geschichte erzählt Ingrid Mickler-Becker so trocken, dennoch so witzig, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Es ist offensichtlich der ganz eigene Humor, den sich die Westfälin, Ehrenbürgerin ihrer Geburtsstadt Geseke, bewahrt hat.
Platzreife hat Mickler-Becker im GC Main-Taunus gemacht
Zurück in Deutschland ging Ingrid Mickler-Becker in die Politik, wurde Staatssekretärin im Sozialministerium der rheinland- pfälzischen Landesregierung. Voraussetzung: Der Sport muss vom Innenministerium in ihr Ressort wechseln. Den Posten verlor sie nach der nächsten Wahl wieder. Später war sie für eine deutsch-schweizerische Beratungsfirma tätig. Und der Golfsport war ihr neuer Begleiter, ihr Sportskamerad Manfred Germar war happy.
In Deutschland wehte allerdings ein anderer Golfwind. Da geht nichts ohne Platzreife. Damals durfte man auf einem Par-72-Platz maximal 36 über, also 108 Schläge brauchen. Fritz Schmidt, Olympiasieger 1972 mit der Hockey-Nationalmannschaft, nahm ihnen die (erfolgreiche) Prüfung ab. „Moment mal“, ruft sie plötzlich, „das war ja hier in Delkenheim!“ Hatte sie gar nicht mehr auf dem Schirm. Die leicht trauerumwehten Augen beginnen zu leuchten. Und mit wieder ernst werdendem Blick sagt sie nach dem gemeinsamen Mittagessen: „Ich wollte nie mehr ein Interview geben. Und das war auch definitiv mein letztes“. MAIN.golf fühlt sich geehrt. Vielen Dank, Ingrid Mickler-Becker und weiterhin schöne Spiele!